Alle fünf Jahre verwandelt sich das sonst eher beschauliche Kassel in die Welthauptstadt der modernen Kunst. Mit der Kunst verändert die selbsternannte “Nordhessenmetropole” deutlich spürbar ihren Charakter – internationales Publikum und Kunstinteressierte aus aller Welt fallen auf in dieser Stadt. Dieses Jahr ist es wieder soweit, die dOCUMENTA (13) zeigt bis zum 16. September 100 Tage lang moderne Kunst.
Seit der Erstausgabe 1955 hat sich die documenta als Leitveranstaltung zeitgenössischer Kunst etabliert – wobei “etabliert” sicher nicht die Art der Kunst und die Künstler beschreibt… Ich erinnere mich noch gut an meine erste documenta, die 6. Ausgabe, 1977. Als Kind nahm ich an einer Kinderführung teil, hörte zu, wie uns Joseph Beuys die seinerzeit skandalöse “Honigpumpe” erklärte und geduldig unsere Fragen beantwortete. Zuhause habe ich sogar noch ein Foto davon, einschließlich des Autogramms, das ich mir damals geben ließ…
Von da an habe ich jede documenta besucht, und einige Dinge haben sich nicht geändert. Sicher ist beispielsweise seit Jahrzehnten, dass man bei jedem Documentabesuch vor einem Exponat steht und hinter sich folgende Sätze hört:
- “Das hätte ich auch gekonnt” (…haste aber nicht gemacht!)
- “Das soll Kunst sein? (feminine Abneigungsbekundung)
- “Das ist doch keine Kunst! (maskuline Abneigungsbekundung)
Besonders beliebt ist dies immer bei abstrakten Gemälden mit großen Farbflächen (siehe exemplarisch das Foto des Gemäldes von Etel Adnan) und bei Aktionen wie den “wandernden Zypressen” von Maria Loboda.
Zugegeben, bei manchem, was man sieht, ist man sich nicht sicher, ob es “offizielle” documenta-Kunst ist oder nur eine witzige Aktionen von “Trittbrettfahrern”, wie beispielsweise bei der Hasengruppe.
Überhaupt: die Grenzen sind fließend. Nach intensivem Studieren der zeitgenössischen Kunst ertappt man sich dabei, dass man alles Mögliche daraufhin hinterfragt, ob es ein Exponat ist. Da stolpert man auch schon einmal über einen Parkbanksockel ohne Bretter – mindestens zehn Prozent der Besucher könnten einem wahrscheinlich die besondere Bedeutung erklären, obwohl doch einfach nur die Bank defekt ist…
Für Manchen scheinen einige Kunstwerke vermutlich primär den Zweck zu verfolgen, den Beweis dafür anzutreten, dass moderne Kunst nach dem Anspruch der Szene nicht “schön” oder “ästhetisch” sein muss. Besonders gilt dies für Video- und Klangskulpturen, die – zugegeben – manchmal selbst bei toleranten Menschen an die Schmerzgrenze gehen. Aber hier sind wir dann schon beim persönlichen Geschmack und Empfinden. Und da sollte aus meiner Sicht bei der d13 für jeden einigermaßen neugierigen und offenen Menschen einiges dabei sein, das den Besuch in Kassel lohnt.
Hier eine Auswahl von vier Kunstwerken, die meinen Besuch zu einem lohnenden Besuch gemacht haben (…und es gab mehr):
– Im Keller der documenta-Halle wird eine Installation von Nalini Malani gezeigt, die optisch und akustisch eindrucksvoll ist. Mehrere Beamer durchleuchten rotierende, bemalte und halb transparente Tonnen und werfen ein bewegtes Bild- und Schattenspiel an die Wände – mit entsprechend überlagerter akustischer Begleitung.
– Der Amerikaner Michael Rakowitz inszenierte im Fridericianum ebenso anschaulich wie handwerklich ausgezeichnet – und je nach persönlicher Empfindsamkeit sogar bewegend – wie Kunst sinnlos zerstört wird. Der Bogen wird gespannt von zerstörten Büchern im zweiten Weltkrieg (in Deutschland und Polen) bis zu von Taliban 2001 zerstörten Buddha-Statuen.
– In der neuen Gallerie hat Geoffrey Farmer in einer echten Fleißarbeit hunderte, wenn nicht tausende Fotos aus dem US-Magazin Life auf kleine Stäbe gesetzt und zu einer gigantischen Collage montiert. Das könnte man sich stundenlang ansehen und würde immer noch etwas Neues entdecken.
– “Die Gedanken sind frei – 100 songs for 100 days of dOCUMENTA (13)” von Susan Hiller. In dem Raum in der Neuen Galerie spielt eine Musicbox 100 Widerstandslieder aus aller Welt, ein Begleitbuch liegt aus und die Texte an der Wand ergänzen die Audioskulptur zu einem Gesamteindruck – man sitz da und lässt die Gedanken angeregt und gleichermaßen frei umherschweifen.
Meine Empfehlung ist zusammenfassend klar: Nutzen Sie die Sommerzeit für einen Abstecher nach Kassel. Machen Sie sich selbst einen Eindruck und finden Sie ihre bevorzugten Kunstwerke. Wenn Sie Kinder haben, nehmen Sie sie mit – Kinder haben oft einen erstaunlichen Zugang zur modernen Kunst und nebenbei kann man in der Karlsaue zwischen den Exponaten herumtoben, es gibt sogar ein Riesenrad.
Also, auf geht’s nach Kassel – und wer da war, der ist sehr herzlich eingeladen, hier seinen Kommentar abzugeben.
Sehr geehrter Dr. Jörg Ehmer,
könnten Sie vielleicht eine Liste der 100 Lieder auf diese Seite stellen. Ich brauche diese Titel nähmlich für die Schule.
Vielen dank im Voraus, Lara
Guten Tag Lara,
leider habe ich die Liste auch nicht. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Die Beste ist, Sie fahren am Wochenende zur dOKUMENTA (13) (das lohnt sich wirklich), sehen sich das Kunstwerk an und schreiben sich aus den ausliegenden Songbooks die Titel ab. Vielleicht war es ja auch das, was sich Ihre Lehrerin dabei dachte, denn die Liedliste ist offenkundig zumindest nicht auf den ersten Blick im Internet zu finden (…ganz schön clever, Ihre Lehrerin).
Die andere Möglichkeit, wenn noch ausreichend Zeit ist: Sie mailen mir Ihre Adresse und ich spende Ihnen ein Songbook – gerne investiere ich in die kulturelle Bildung Ihrer Schulklasse, denn vermutlich werden Sie Ihre Erkenntnis ja teilen. Das Songbook kann man frei kaufen (http://www.buchhandlung-walther-koenig.de/buchhandlung/themen/kunst_-_zeitgenoessisch/documenta/cat/hiller_die_gedanken_sind_frei/pid_170000000001371278.aspx) und es lohnt sich wirklich, denn es sind die Klassiker der Widerstandsmusik (und die zu lesen kann nicht schaden).
Ihr Jörg Ehmer