Eine demokratisch legitimierte Rechtsordnung ist fundamentaler Bestandteil der Gesellschaftsordnung moderner Staaten. Ohne sie und ihre Durchsetzung mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols ist ein freies und friedliches Miteinander kaum vorstellbar. (Rechts-) Philosophen streiten freilich schon lange und leidenschaftlich darüber, welche Grundlage es für Gesetze außerhalb der demokratischen Legitimation gibt und ob es ein grundsätzliches Wertesystem gibt, das seinerseits den Rahmen für Gesetze absteckt.
Egal wie man diese Frage beantwortet, eine Gesellschaftsordnung kann wohl kaum nur auf formalen Gesetzen beruhen. Vielmehr fußt sie auf dem Wertesystem und dem hieraus abgeleitetem Grundkonsens des jeweiligen Kulturraums. Nicht alles, was rechtlich nicht verboten ist, ist auch mit dem allgemeinen Werteverständnis vereinbar und daher “gesellschaftlich erlaubt”. Einfach ausgedrückt: Es ist nicht verboten, sich daneben zu benehmen – trotzdem ist es nicht sozialadäquat!
Dass die Dimensionen “Recht” und “Anstand” durchaus auch ganz praktisch auseinanderfallen können, wird dieser Tage ausgerechnet durch die Veröffentlichung eines Buches einmal mehr belegt. Worum geht es? Bundeskanzler Helmut Kohl hat nach seinem Ausscheiden aus dem Amt dem Journalisten Heribert Schwan in über 600 (!) Stunden umfassend über sein Leben berichtet, damit dieser als Ghostwriter seine Memoiren schreibt. Drei Bände sind erschienen. Der Altkanzler hatte den Text intensiv redigiert und damit klar zum Ausdruck gebracht, was er veröffentlicht sehen möchte – und auch, was nicht.
Nun wurde unlängst bekannt, das Schwan aus den Erkenntnissen der Gespräche ein weiteres, von Kohl unautorisiertes Buch veröffentlichen möchte. Es entbrannte ein Rechtsstreit, weil Helmut Kohl dies verhindern möchte. Kohl klagt unter anderem auch auf Herausgabe der Tonband-Mitschnitte der Gespräche. Dies ist die juristische Seite. Schwan wird zur Herausgabe verurteilt und legt dagegen Rechtsmittel ein. Gleichzeitig hat er aber vor der Herausgabe Kopien der Tonbänder angefertigt – geklagt wurde “nur” auf Herausgabe der Originale, nicht etwaiger Kopien. Spitzfindig, vielleicht auch clever und möglicherweise rechtlich nicht zu beanstanden, aber ist dies anständig?
Ist es richtig, wenn Heribert Schwan nun auf der Grundlage dieser vertraulichen Gespräche ein unautorisiertes Buch veröffentlicht? Ist es akzeptabel, wenn dieses Buch evident einen anderen Duktus hat, als die autorisierten Memoiren, wenn es zumindest auch der besseren Vermarktbarkeit und Effekthascherei wegen mit reißerische Zitaten gespickt wird? Ist es wirklich glaubhaft und überzeugend, wenn der Autor sich damit “verteidigt”, dass auch diese Seite Helmut Kohls zur Vervollständigung des öffentlichen Bildes veröffentlicht werden sollte. Meine Antwort auf diese Fragen lautet “Nein”.
Streitig ist, ob Helmut Kohl seinerzeit zu erkennen gegeben hat, dass die Vertraulichkeit und “Hoheit” über den Gesprächsinhalt nur für die Memoiren gilt oder auch für eventuelle spätere Bücher Schwans. Unstreitig ist, dass Helmut Kohl durch seine aktuellen rechtlichen Schritte unmissverständlich klargemacht hat, dass er dies zumindest jetzt nicht (mehr) möchte. Und hier kommt die Kategorie “Anstand” ins Spiel.
Nicht alles, was man (vielleicht) rechtlich darf, muss man auch machen. Gerade ein Journalist und Biograph hat nach meinem Werteverständnis eine besondere Verantwortung und sollte ein intaktes Wertesystem haben. Journalistischer Anstand ist eben nicht nur Quellenschutz im Sinne der Anonymität, um auch zukünftig vertrauenswürdig zu sein und Informationen zu erhalten. Er umfasst auch ein angemessenes Umgehen mit dem Vertrauen des Gesprächspartners und Respekt für dessen Interessen, mögen diese sich auch ändern. Auch wenn es schwer fallen mag: das Streben nach persönlicher Publizität und ökonomischem Vorteil durch die Vermarktung eines “heißen Themas” darf nicht alles überlagern.
Dies hat ausdrücklich nichts mit der Politik Helmut Kohls zu tun oder mit seinem besonderen Status als langjähriger Bundeskanzler. Ich hätte die gleiche Sicht der Dinge, wenn es um Genscher, Gabriel oder Gysi ginge. Es geht nicht darum, welche Verdienste der Altkanzler hat und welche Fehler er gemacht hat. Auch und gerade als Person der Zeitgeschichte hat er ein Recht darauf, dass mit ihm fair und anständig umgegangen wird, dass sein Vertrauen nicht missbraucht wird und dass seine Interessen nicht in einer Lebensphase mit Füßen getreten werden, in der er sich wegen seines Alters und Gesundheitszustandes nur noch allenfalls eingeschränkt wehren kann.
Also, liebe Leser und Buchkäufer, erliegen Sie nicht der Versuchung des Voyeurismus und der Schadenfreude, sondern begegnen Sie dem Buch so, wie es dies verdient hat: mit Nichtachtung.
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