Der Tag der Deutschen Einheit ist der einzige auf Bundesebene festgelegte Feiertag. Eingeführt mit dem Einheitsvertrag am 3. Oktober 1990 unterstreicht dies die historische Bedeutung der Wiedervereinigung. Ein Tag zum Gedenken an die Teilung und zum Feiern der neuen staatlichen Einheit. Aber gleichzeitig auch der Auftrag, die Einheit in der gesellschaftlichen Realität herbeizuführen.
Über dreißig Jahre später ist der Wunsch einer Einheit von Ost und West unvollendet. Das unterschiedliche Wahlverhalten ist nur eines der sichtbaren Zeichen dafür. Die Demarkationslinie besteht viel zu oft fort, die Gründe und Verantwortlichkeiten sind vielschichtig.
Es wurden viele Fehler gemacht – und werden bis heute gemacht. Fehler der Gesellschaft in ihrer Breite. Die Bedeutung des Ziels, die Einheit für die Menschen in Ost und West voranzutreiben, hat eher zugenommen.
Und gleichzeitig gilt es, den gesellschaftlichen Wandel, der seit 1990 gerade auch in Deutschland erfolgt ist, zu berücksichtigen. Die bloße Nabelschau „Ost/West“ und das sich Suhlen in Versäumnissen und Fehlern greifen zu kurz. In Zeiten von Populismus und Spaltung hat der Begriff „Einheit“ eine tiefgreifendere und umfassendere Bedeutung. Und damit wandeln sich auch Zweck und Auftrag des Tags der Deutschen Einheit.
Unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Viele bewerten das positiv, gleichzeitig nimmt die Polarisierung zu. Der Diskurs wird immer häufiger bewusst abgrenzend, ausgrenzend, diskriminierend und emotional statt sachlich geführt – am augenscheinlichsten in der Diskussion über Menschen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind.
Zu den Fakten: 20 Millionen Menschen, also ein Viertel aller hier lebenden Menschen, haben eine „Einwanderungsgeschichte“. Fast 14 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit leben hier, seit 1990 hat sich die Zahl mehr als verdoppelt.
Zur Relation: Inklusive der dort lebenden Zuwanderer leben in Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern gut 12 Millionen Menschen. Ebenso wie die Einheit von West und Ost ist also die Einheit der hier lebenden Menschen aus dem In- und Ausland zentral für die Einheit unserer Gesellschaft.
Vielfalt als Normalzustand
Die Vielfalt in Deutschland ist keine vorübergehende Erscheinung, sie ist der Normalzustand. Wir sollten also die manipulative und irreführende Diskussion um eine deutsche Leitkultur beenden. Und erst recht sollten wir in einem qua Verfassung säkulären Staat aufhören, zu sinnieren, ob der Islam zu Deutschland gehört: Über fünf Millionen Menschen, die dieser Religion angehören, leben hier.
All diese Menschen prägen unsere gesellschaftliche Realität. Und natürlich gehört zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dem Thema auch, dass gravierende Fehler in der Zuwanderungspolitik gemacht wurden und werden – mit zum Teil verheerenden Auswirkungen. Veränderungs- und Handlungsbedarf sind klar, an der Umsetzung sind die Entscheidungsträger zu messen.
Aber all das rechtfertigt nicht die Diskriminierung und Verunglimpfung von Millionen Zugewanderten, die unseren Staat und unser Gemeinwesen im Guten mitprägen. Wer dumpf „Ausländer raus“ skandiert, über Remigration schwadroniert oder Menschen aufgrund ihrer geographischen Herkunft entwürdigt und verurteilt, der stellt sich abseits der gesellschaftlichen Mitte, indem er versucht, einen Keil zwischen die Menschen zu treiben.
Bereits aus ethischen Gründen dürfen wir keinen Unterschied machen: Egal welches Geschlecht, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob mit oder ohne Handicap – all das spielt keine Rolle. Dies entspricht der Wertevorstellung unseres Grundgesetzes – allem voran der zentralen Menschenwürdegarantie in Art. 1 und dem Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot des Artikel 3. Dieser Wertekanon ist aus bitterer Erfahrung gereift und aus gutem Grund mit Ewigkeitsgarantie in unserer Verfassung verankert. Das muss für eine zivilisierte Gesellschaft außer Frage stehen.
Vielfalt ist unverzichtbar
Darüber hinaus gibt es auch sachliche Gründe, warum wir auf Vielfalt und Zuwanderung nicht verzichten können: Es gibt kaum Unternehmen, die nicht über Arbeitskräftemangel klagen. Dies belastet unsere Wirtschaft und deren Leistungsfähigkeit – und damit unser aller Wohlstand und Zukunft – spürbar. Es gibt Unternehmen, in denen drei Viertel der Arbeitskräfte keinen deutschen Pass haben. Und ohne die in Deutschland nichts mehr laufen würde. Das gilt für viele Pflegeheime und Krankenhäuser ebenso wie für weite Bereiche der Gastronomie, aber auch für viele Produktions- und Servicebetriebe. Und wer unsere teils marode Infrastruktur, egal ob Straßen, Schienen, Bahnhöfe oder Brücken, nur mit Arbeitskräften instand setzen möchte, die einen deutschen Pass haben, der wird nichts bewirken.
Im Jahr 2023 wurde der Beschäftigungszuwachs in Deutschland nur durch Zuwanderung getragen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig-beschäftigten Deutschen ist gleichzeitig zurückgegangen. Ein Ergebnis der demographischen Entwicklung und Zeichen dafür, dass wir alle von Zuwanderung abhängig sind. Gleichzeitig gilt es, diese Menschen nicht zu entpersonalisieren und sie nur als „Arbeitskräfte“ zu sehen. Das Konzept der „Gastarbeiter“, die als Arbeitskräfte, aber nicht als Menschen willkommen sind, ist bereits vor Jahrzehnten gescheitert.
Umso wichtiger ist es, alle Menschen, die hier leben, zum Wohle aller in unsere Deutsche Einheit einzubinden. Gelingt dies nicht, wird unsere Gesellschaft weiter auseinanderdriften und unser Wohlstand rapide schwinden. Zu dieser Einheit gehört das aktive Unterbinden von Hetze, aber auch das Schaffen eines Klimas der Zusammengehörigkeit. Der neu verstandene Tag der Deutschen Einheit sollte der Startschuss für eine neue Geisteshaltung sein: miteinander statt gegeneinander, Inklusion statt Ausgrenzung.
Der Tag der Einheit
Als Gedenktag dient der 3. Oktober auch dazu, zu mahnen, dass sich nicht wiederholen darf, was zur Teilung geführt hat. Wir haben in den vergangenen Jahren zu wenig getan, um den Dialog zu fördern und respektvolles Streiten auf Augenhöhe nicht zu verlernen. Über alle Generationen ist die Medienkompetenz schwach ausgeprägt und das Verständnis für die toxische Wirkung von Meinungsblasen in sozialen Medien unterbelichtet. Zu oft sind scheinbar einfache „Lösungen“, die meist nicht mehr als hohle Phrasen sind, unwidersprochen geblieben. Wir haben Grenzüberschreitungen und manipulierenden Narrative toleriert. Damit muss Schluss sein.
Eine wehrhafte Gesellschaft darf die Kommunikationshoheit nicht Populisten überlassen. Sie muss selbstbewusst gegenhalten. Dies ist nicht die alleinige Aufgabe der Politik. Es ist die Aufgabe von allen, insbesondere auch von denen, die auch sonst in der Gesellschaft und für die Gesellschaft Verantwortung tragen.
Es gibt in der Geschichte kein Beispiel dafür, dass populistische Agitation, Spaltung, Zwietracht und gegeneinander Aufhetzen zu etwas Gutem geführt hätte. Es hat immer zum Schlechten geführt. Bis hin zu Krieg, Völkermord und unermesslichem Leid.
Die lange Phase des Friedens und Wohlstands in Deutschland und wesentlichen Teilen Europas beruht auch auf der einenden Kraft der Europäischen Union. Die Einheit Europas als Garant für Frieden in Europa, die Einheit in Deutschland als tragende Säule Europas und als Garant für friedliches Zusammenleben in Deutschland. Dies ist die Einheit, die wir mit dem Tag der Deutschen Einheit gemeinsam anstreben sollten.
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Dankbar habe ich das Angebot der Nürnberger Nachrichten angenommen, diesen Artikel in der Wochenendausgabe nach dem 3. Oktober als Aufmacher des Magazins der Zeitungsgruppe zu veröffentlichen. Hierdurch konnte ich mit diesem mir am Herzen liegenden Thema eine breite Öffentlichkeit erreichen – ich danke der Redaktion für die Veröffentlichung. Hier klicken, um zur Online-Präsenz der Nürnberger Nachrichten und zum Artikel zu gelangen: https://www.nn.de/politik/30-jahre-wiedervereinigung-burger-king-chef-lebt-in-schwabach-und-sagt-wie-einheit-heute-geht-1.14436091
Lieber Dr. Ehmer,
den meisten Ihrer Aussagen stimme ich zu. Ich habe gelernt, auch mit und durch Sie, dass das Suchen nach Fehlern nicht weiterbringt. So bin ich eine Freundin von Lösungsfindungen.
Die Probleme sind (weitestgehend) erkannt und jetzt kommt die Frage, auf die ich keine zufriedenstellende Antwort finde: was können wir, Sie, ich, die Gesellschaft tun, um wieder zu mehr eigenverantwortlichem Handeln zurück zu kehren?
Falls Sie einmal in Wien sind und sogar etwas Zeit haben würde ich mich hierzu sehr gerne mit Ihnen austauschen.
Bis es soweit ist werde ich in meinem Einflussbereich weiterhin meine positive Energie stecken.
Ihnen alles Liebe und Gute!
Herzlich, Kristina Blaha