„…dann bin ich um den Schlaf gebracht“, werden viele in Anlehnung an Heinrich Heine spontan ergänzen. Den Meisten kommt dabei vermutlich sogleich der Gedanke an Bürokratie und Geldverschwendung, an Einschränkung der nationalen Souveränität und Kontrollverlust. Unweigerlich denkt man an skurril Anmutendes wie an die Verordnung über die Qualitätsnorm für Gurken (inklusive zulässigem Krümmungsgrad für Qualitätsstufe I). Oder, um etwas Aktuelleres zu nennen, an die massive bürokratische Belastung für Unternehmen durch die novellierte Entsenderichtlinie.
Manche derart negative Assoziationen sind berechtigt – viele jedoch bei Prüfung und Nachdenken nicht. Die Gurkenverordnung wurde bereits vor zehn Jahren aufgehoben. Trotzdem halten sich noch heute viele Unternehmen daran, weil es entgegen allem Spott Sinn macht (beispielsweise aus logistischen Gründen). Damit fällt diese Ex-Verordnung in die Kategorie der Kritik, die sich bei näherer Betrachtung weitgehend in Luft auflöst.
Die Entsenderichtlinie ist sicher alles andere als ein Glanzstück. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass sie auf soziale Ausbeutung und Lohndumping reagiert. Und hier wird sie ihre Wirkung entfalten. Sie fällt damit eher in die Kategorie: „Im Kern erforderlich, aber im Detail stark verbesserungsbedürftig“.
Unbestritten ist, dass man in der Europäischen Union vieles besser machen könnte – und sollte. Aber für welchen Lebensbereich gilt das nicht? Machen unsere nationale Regierung, unsere Landesregierung oder unsere kommunale „Regierung“ alles richtig? Wohl kaum! Und wer kann von sich behaupten, dass er beruflich oder privat nichts besser machen könnte?
Natürlich ist es richtig, das Schlechte zu benennen und stets nach Verbesserung zu streben. Und in der Europäischen Union gibt es vieles zu verbessern. Gleichzeitig sind aber auch Augenmaß und Realismus gefragt, wenn man etwas so hoch Komplexes, wie eine multinationale Vereinigung verschiedenster Sozialstrukturen bewertet. Es gilt, die Dinge richtig ein- und zuzuordnen.
Bei dieser Einordnung hilft erneut der Blick auf den Dichter Heinrich Heine, der im ersten Vers seiner „Nachtgedanken“ formuliert:
„Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann die Augen nicht mehr schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.“
Heine schrieb das Gedicht 1843 im Pariser Exil – verbittert über Deutschland und voller Sehnsucht nach seiner Mutter. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte er Deutschland den Rücken gekehrt. Heine entzog sich so der Zensur und persönlichen Anfeindungen, ausgelöst durch seine politische Lyrik aber auch durch seine jüdische Herkunft.
Die Zeit war geprägt von der Kleinstaaterei des Deutschen Bundes. Sie mündete in die Märzrevolution, die nicht die angestrebte Demokratie und Einigkeit brachte, sondern als Gegenreaktion zur Verteidigung der Machtstrukturen noch mehr Gewalt hervorrief. Das nationale Streben nach Einigkeit, Demokratie und Frieden wurde in Deutschland historisch immer wieder unterdrückt, um Individual- oder Partikularinteressen zu verteidigen. In dieser Situation ist das Wehklagen Heines also durchaus nachvollziehbar. Aber wie sieht es heute aus?
Wer die Geschichte kennt, der weiß, wie gut es uns heute geht und wie wenig selbstverständlich dies ist. Frieden in Europa ist historisch gesehen ebenso ein Ausnahmezustand wie die Völkerfreundschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Es ist der zentrale Verdienst der Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Europäischen Union das Fundament für die längste Friedensphase auf europäischem Boden geschaffen zu haben. Ein gemeinsames Europa mit Kernwerten, die heute bedeutender und weniger selbstverständlich sind, als noch vor wenigen Jahren.
Wenn Heine vor Zensur floh, dann erwächst daraus die Verpflichtung für alle Europäer, die mühsam erkämpfte Presse- und Meinungsfreiheit zu verteidigen. Und das gilt es auch gegen die zu tun, die diskreditierend und geschichtsvergessen „Lügenpresse“ skandieren, so wie es bereits die Nationalsozialisten vor der Machtergreifung taten. Zu Heines Zeiten musste man sich politisch und antisemitisch motivierten Anfeindungen durch Flucht entziehen – ganz zu schweigen von dem, was im folgenden Jahrhundert geschah. So weit darf es in Europa nie wieder kommen – nie wieder! Wenigstens darüber sollte Einvernehmen bestehen.
In diesem Sinne müssen sich gerade vor der Europawahl die Fundamentalkritiker der Europäischen Union fragen lassen, was denn die Alternative sein soll. Wie soll Frieden in Europa dauerhaft sichergestellt werden? Und wie sollen Stabilität und Wohlstand abgesichert werden? Soll die Alternative ein loses Miteinander von sich wieder entfremdenden Staaten sein, in denen Populismus und nationalistische Abgrenzung Raum greifen? Wollen wir Präsident Trump nacheifern und auf deutschem Boden wieder eine Mauer bauen? Gewiss nicht! Migration muss an Entstehungsort und –grund angegangen werden, die Situation in Europa kann nur gemeinsam mit unseren Nachbarn gelöst werden – auch wenn es nicht leicht ist. Und es kann auch niemand ernsthaft glauben, ein einzelner europäischer Staat stünde in einer globalisierten Wirtschaft besser da, als im Verbund mit den anderen. Das trifft auch für Deutschland zu – mit oder ohne Gurkenkrümmung und Bürokratie bei Auslandsentsendungen.
Ohne eine starke europäische Union mit eigener demokratisch legitimierten Rechtssetzungskompetenz taumeln alle europäischen Staaten in die globale Bedeutungslosigkeit, politisch und wirtschaftlich. Damit würden sie Spielball der engstirnigen Egomanen, die zunehmend die Weltpolitik dominieren. Denn in der gegebenen komplexen, globalen Verflechtung werden ökonomische, kulturelle und militärische Machtverhältnisse nicht mehr von Einzelstaaten europäischer Größenordnung bestimmt. Wir haben ja bereits als Europäische Union Schwierigkeiten, uns in der digitalen Welt durchzusetzen. Es steht viel auf dem Spiel und es geht im Kern gerade nicht um das Akronym „EU“, das oft für einen zu Recht kritisierten und reformbedürftigen Beamten- und Kostenapparat steht. Es geht im Kern um die sichere Zukunft der europäischen Völker und Staaten – und damit auch um die unsere. Der einzige Garant dafür ist eine starke Europäische Union.
Gleichzeitig gilt auch, dass ein derartiges Zusammenleben natürlich Kompromisse erfordert. Dies gilt bereits für den Alltag mit Familie und Freunden-, erst Recht aber, wenn sich Völker mit nur teilweise identischer Kultur und Geschichte zusammenschließen. Was Egozentrik im persönlichen Umfeld ist, das ist Nationalismus im internationalen Kontext. Ein Europa, in dem alles genau so läuft, wie nur einer es möchte, das ist utopisch (und auch nicht erstrebenswert).
Unsere britischen Freunde demonstrieren gerade, wie gefährlich das Spiel mit dem Feuer ist. Die Nation ist gespalten. Wirtschaft und Wohlstand nehmen ernsthaft Schaden. Der Irlandkonflikt droht wieder auszubrechen, die Einheit des United Kingdom steht auf dem Spiel. Wer angesichts dieser Erfahrung ernsthaft eine Volksabstimmung über einen „Dexit“ für eine Option hält, disqualifiziert sich selbst.
Die Entstehung der Brexit Entscheidung hat uns erneut vor Augen geführt, dass es keine Protestwahlen gibt. Wahlen sind ein politisches Gestaltungsrecht, das unsere Vorfahren unter Einsatz ihres Leben erkämpft haben. Daraus erwächst für alle die Pflicht, dieses Recht verantwortungsvoll zu nutzen. In diesem Sinne ist die Europawahl eine Wahl zur konstruktiven politischen Gestaltung, und keine Gelegenheit zum diffusen Protest. Nutzen wir die Gelegenheit – für eine noch bessere Zukunft!
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ (Artikel I-2 der Europäischen Verfassung).