Ab wann eine Situation als bedrohlich empfunden wird, beurteilt jeder Mensch vor dem Hintergrund seiner Erfahrung und Entwicklung unterschiedlich. Ist diese Schwelle jedoch überschritten, steuert das Stammhirn das Verhaltensmuster; dies ist tief im genetischen Code (auch) der Spezies Mensch verankert. Die Reaktion ist situationsabhängig Gegenwehr (Kampf) oder ersatzweise Flucht. Und wenn auch dies nicht hilft oder als nicht aussichtsreich erscheint, ist (Angst-)Starre die nächste Stufe.
Intensität und Dauer der drei Phasen sind individuell. Manch einer hält stets jegliche Gegenwehr für aussichtslos und flüchtet sogleich – oder erstarrt. Andere geraten sehr schnell in den Modus Gegenwehr und verharren dort sehr lange und heftig. Auch die Wahl der Art der Gegenwehr ist durchaus bedeutend: Lebewesen, die in operativer Hektik die falsche Gegenwehrmaßnahme ergreifen, sind in freier Wildbahn ein Fall für die natürliche Selektion – vermutlich wäre oft “Flucht” die bessere Wahl… Das gilt im übertragenen Sinne auch für Menschen und weniger existentielle Bedrohungen.
Sicher sind Starre und Flucht interessant, aber besonders spannend finde ich die Stufe “Gegenwehr”. In Unternehmen jeder Größenordnung ist all dies nicht nur für politische Macht- und Ränkespiele relevant, sondern in besonderem Maße auch für die Marktgestaltung, also für das Wettbewerbsverhalten. Gerade ehrgeizige Menschen mit Führungsanspruch haben den Antrieb, sich durchzusetzen. Bei ihnen ist der Urinstinkt der Arterhaltung besonders stark ausgeprägt. Und weil man heute nicht mehr mit der Keule um sein Überleben kämpfen muss, wird halt für den beruflichen Erfolg gekämpft. Sei es innerhalb der Unternehmens (Beförderung/Aufstieg), sei es nach außen gerichtet.
Für gute Beobachter ist dies bereits in “normalen Zeiten” zu erkennen. Noch deutlicher tritt es jedoch in Zeiten zu Tage, die für den erzielbaren Erfolg besondere Bedeutung haben – in der Hochsaison. In vielen Bereichen des Handels beispielsweise ist das Weihnachtsgeschäft eine solche “heiße Phase”. In einem immer kürzer werdenden Zeitraum wird der 13. Monat eingefahren – oder auch nicht, wenn es schlecht läuft. Diese Saison entscheidet bei vielen Unternehmen wesentlich über die Höhe des Gewinns, oder darüber, ob das Jahr mit Gewinn oder Verlust endet. So steigt angesichts der Bedeutung bei Vielen die Nervosität. Jedes kleine Hindernis wird von Manchen als Gefahr empfunden. Als Gefahr, die schnelle Gegenwehr erfordert. Das System läuft heiß, hinter jedem Busch lauert etwas, das mit zahllosen Maßnahmen bekämpft wird.
Menschen mit Souveränität aufgrund entsprechender Erfahrung und Stressbewältigungs-kompetenz gelingt es, in solchen “heißen Phasen” operative Hektik zu vermeiden und trotzdem sich und andere mit angemessenen Maßnahmen zum Erfolg zu führen; das ist von Hektik und Panik ebenso deutlich abzugrenzen wie von Flucht und Starre.
Wer erfahrener ist oder eine deutlich höhere Alarmschwelle hat als der operative Hektiker, der wundert sich über Hektik und das als blinden Aktionismus empfundene Handeln – “…was der wieder hat…” Dieses Schauspiel wiederholt sich wie gesagt in jeder Hochsaison, wann auch immer die im jeweiligen Unternehmen ist. Um beim Handelsbeispiel zu bleiben: je ausgeprägter die Bedeutung des Weihnachtsgeschäfts ist, umso stärker sind im November und Dezember die Ausschläge – egal, ob es um Smartphones, Spielwaren oder Parfüm geht.
Ein guter Beobachter hat das vorstehend Beschriebene einmal fatalistisch-humorvoll als “Dominostein-Krankheit” bezeichnet. Warum? Weil die Symptome sich jedes Jahr genau dann zeigen, wenn die Dominosteine in den Regalen des Lebensmittel-Einzelhandels in die Pole-Position geräumt werden und die Eisdielen in den Innenstädten von Lebkuchen-Händlern (mit Dominosteinen im Begleitgepäck) übernommen werden. Natürlich hat das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun. Aber “Dominostein-Krankheit” ist für Insider – und dazu gehören Sie jetzt – hinreichend klar und klingt nicht so negativ wie “panische Vorweihnachtshektik”.
Also, wenn in den kommenden Tagen und Wochen Menschen um Sie herum komisch werden und panisch “am Rad drehen”, dann denken Sie an die Dominostein-Krankheit; das macht es nicht besser, aber wenn man die Wirkmechanismen kennt und sogar versteht, dann ist es vielleicht einfacher auszuhalten.